Ms 47 ist ein Ganzlederband mit Holzdeckeln aus dem 15. Jh. Es ist ein Sammelband - er vereint verschiedene Handschriften, wie es nicht unüblich ist für seine Zeit. Der Band ist mit einst himbeerroten Lederkapitalen geschmückt und wird von zwei Hakenschliessen zusammengehalten.

Die Zeit hat ihre Spuren hinterlassen: Der untere Bereich des Rückens ist zerschlissen, das untere Kapital fast komplett abgerissen. Leider soweit nichts Ungewöhnliches – bis auf eine traurig herabhängende Schliesse... warum hält die denn nicht mehr?
Die Aufgabe der Schliesse ist es den Buchblock satt zusammenzupressen. So dringt weniger Staub zwischen die Seiten und der geschlossene Band erhält Stabilität. Eine Schliesse die locker sitz und nicht eingehakt bleibt ist Zwecklos.


Die Antwort befindet sich im Inneren des Buches. Eine gorsse Lücke klafft im Buchblock und wer ganz genau hinschaut findet scheinbar überflüssige Heftfadenstücke und bemerkt auch: dem armen Band sind die Bünde gebrochen. Man erkennt: hier fehlen Seiten! Seiten, welche die Bünde schön gleichmässig gestützt und wohl vor dem Einknicken und Brechen bewahrt hätten. Seiten, die dem Buchblock das Volumen gegeben haben für welches die Schliessen einst passend waren. Die Seiten hätten auch den Einbandrücken ausgefüllt und dieser wäre schön in seiner Rundung geblieben anstatt durch die Lücke einzusinken. Wären dann dem Rücken die Risse und Fehlstellen vielleicht auch erspart geblieben? – mit Sicherheit lässt sich das nicht Sagen, aber hilfreich war die Deformation sicher nicht.

Diese Lücke also hat dem Band allerhand Übel gebracht – aber es ist auch genau diese Lücke die uns Wortlos eine Geschichte erzählt. Die Resten des Heftfadens, die sauberen Ränder, die ganze ordentliche Erscheinung erwecken nicht den Eindruck eines Unfalls. Nein, die fehlenden Seiten sind dem Band nicht durch widrige Umstände abhanden gekommen, viel wahrscheinlicher wurden Sie mit voller Absicht entfernt. Mit voller Absicht und ohne jedes schlechte Gewissen dürfen wir annehmen. Denn die Funktion eines Buches war in dieser Zeit eine andere, als wir sie heute kennen und für selbstverständlich halten. Ein Buch dass wir heute im Laden kaufen ist für uns eine abgeschlossene, fixe Einheit. Dagegen hatte der Sammelband des (späten) Mittelalters den Charakter eines dauerhaften Schutzbehältnisses – dauerhaft aber nicht zwangsläufig für immer. Handschriftlicher Text ist aufwändig und die Texte waren nicht im Überfluss vorhanden – brauchte man einen Text an einem anderen Ort war es legitim diesen aus einem bestehenden Band zu entnehmen anstatt ihn von Hand abzuschreiben.
Die Lücke in Ms 47 ist höchst wahrscheinlich ein Zeugnis dieser vergangenen Buchkultur. Hier redet das Fehlende Bände – und dass soll unbedingt so bleiben. Bloss was ist mit den Problemen, welche die Lücke verursacht? – Dafür gibt es eine Lösung: Ein in der Dicke passendes Stück säurefreier Wellkarton ersetzt fortan als „Prothese“ die fehlenden Seiten. Damit sind Buchblock und Einband wieder im Gleichgewicht. Der Rücken kann in seiner ursprünglichen Form stabilisiert werden und die Schliessen halten wieder.


Nach der konservatorischen Restaurierung wohlbehütet in ihrer massgeschneiderten Archivkartonbox ist Ms 47 weiter da um ihre Geschichten zu erzählen – die geschriebenen und die wortlosen.
Wir danken dem Lionsclub, dessen finanzielle Unterstützung die konservatorische Restaurierung von Ms 47 ermöglicht hat.
Interesse, ebenfalls zur Erhaltung unseres Bücherschatzes beizutragen? Melden Sie sich sehr gerne unter: archives@cordeliers.ch